Im UNESCO-Biossphärenreservat Schorfheide-Chorin wurden 18 dort bisher nicht bekannte Arten von Doppel- und Hundertfüßern gefunden, darunter der laut Rote Liste in Deutschland sehr seltene Hundertfüßer Geophilus carpophagus. In Brandenburg war bisher nur ein Vorkommen dieses Bodenbewohners bekannt. Mit der Sammelexkursion wurden Wissenslücken geschlossen und der wissenschaftliche Nachwuchs an die Erforschung der Bodentiere herangeführt.
Mit Hilfe einer vom Rote-Liste-Zentrum finanzierten Sammelexkursion gelang es, das Wissen über die Vorkommen von Doppel- und Hundertfüßern (Diplopoda, Chilopoda) in Brandenburg zu erweitern. Während der dreitägigen Exkursion in das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin erfassten Artexperten und -Expertinnen 1.062 Tiere. Sie stellten fest, dass im Gebiet 31 Doppelfüßerarten leben sowie 19 Hundertfüßerarten. Untersucht wurden Verbreitung, Habitatansprüche und Bestandssituation der Tiere.
Mit Ausnahme des sehr seltenen Hundertfüßers Geophilus carpophagus wurden alle erfassten Arten als selten, mäßig häufig oder häufig klassifiziert, sie gelten bisher als nicht gefährdet. Die Untersuchungsergebnisse werden in die Datenbank „Edaphobase“ eingepflegt und bei der Aktualisierung der nächsten Roten Listen der Doppel- und Hundertfüßer berücksichtigt. Die Ergebnisse wurden im Dezember 2020 in der „Schubartiana“, der Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft Deutschsprachiger Myriapodologen, publiziert.
Im Biossphärenreservat wurden insgesamt 24 Standorte mit 9 Biotoptypen untersucht. Das gesammelte Material soll auch für genetische Untersuchungen im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte verwendet werden.
Doppel- und Hundertfüßer (Chilopoda und Diplopoda) gehören neben den winzigen und daher kaum beachteten Wenig- und Zwergfüßern (Pauropoda und Symphyla) zur Gruppe der Vielfüßer (Myriapoda). Der umgangssprachliche häufig verwendete Begriff „Tausendfüßer“ bezieht sich einerseits auf die gesamte Gruppe der Vielfüßer (Myriapoda), anderseits aber auch nur auf die Gruppe der Doppelfüßer (Diplopoda), was zu Verwechslungen und Unklarheiten führen kann. Auch wenn es Arten gibt, die weit über hundert Beine haben, so gibt es keinen Vielfüßer, der tatsächlich tausend Beine hat.
Doppelfüßer, die sich durch zwei Beinpaare pro Körpersegment auszeichnen, sind Nützlinge und spielen eine wichtige Rolle im Naturhaushalt. Ähnlich wie Regenwürmer, Asseln oder Springschwänze „recyceln“ sie abgestorbene Pflanzenteile und verbessern so die Bodenfruchtbarkeit.
Rund 70 % der Doppelfüßerarten gelten in Deutschland derzeit laut Roter Liste als ungefährdet. Nur 3 % der bewerteten Doppelfüßerarten sind bestandsgefährdet, weitere 21 % der Arten werden jedoch als extrem selten eingestuft. Deutschland hat für 21 Doppelfüßerarten eine besondere Verantwortlichkeit, d.h. ein Großteil des weltweiten Bestands dieser Arten lebt bei uns. Für den Schutz der Arten ist die Erhaltung ihrer Lebensräume von größter Bedeutung. Um die Bestände waldbewohnender Doppelfüßer zu schonen, sollten großflächige Kahlschläge und die Entnahme von Totholz vermieden werden.
Anders als die eher langsamen, sich vom Bestandsabfall ernährenden Doppelfüßer sind die Hundertfüßer (ein Beinpaar pro Segment) flinke Räuber. Sie verbringen den Tag meist in Deckung unter Rinde, Steinen oder Laub und jagen in der Nacht. Ihre Beute sind kleinere Tiere mit einer relativ weichen Haut, wie beispielsweise kleine Würmer, Spinnentiere, Springschwänze und Insekten sowie deren Larven. Bei den Hundertfüßern gelten 6 % der Arten als extrem selten und nur eine einzige Art als bestandsgefährdet. Das Ausmaß ihrer Gefährdung ist jedoch noch nicht ausreichend erforscht. Als Hauptgefährdungsursache für Hundertfüßer spielt der Lebensraumverlust eine Rolle, auch wenn sich dies aktuell noch nicht deutlich in den Daten widerspiegelt. Wie auch bei zahlreichen anderen Arten steht der Biotopschutz an erster Stelle, um die Bestände und die Artenvielfalt langfristig zu sichern.
Die Exkursion wurde von der „Arbeitsgemeinschaft Deutschsprachiger Myriapodologen“ ausgerichtet, in Verbindung mit einem Arbeitstreffen zur Vorbereitung der nächsten Roten Liste der Doppel- und Hundertfüßer. Die erfahrenden Expertinnen und Experten nutzen die Gelegenheit, um wissenschaftlichen Nachwuchs zu gewinnen und luden Studierende zur Exkursion ein: „Bei der Feldarbeit mit anschließenden Bestimmungsübungen können wir ganz praktisch zeigen, wie spannend und befriedigend es sein kann, Neues zu entdecken und Wissenslücken zu schließen“, so die Leiterin der Arbeitsgemeinschaft, Dr. Karin Voigtländer vom Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz. Mit Erfolg: „Die Neulinge wollen auch in Zukunft die Arbeiten des Rote-Liste-Myriapoden-Teams tatkräftig unterstützen“.
Während der Exkursion wurden der studentische Nachwuchs mit der ökofaunistischen Myriapodenforschung vertraut gemacht. Dazu gehörten eine Einführung in für Myriapoden geeignete Sammelmethoden, die Erfassung von Basisdaten sowie die Vorstellung von drei Mobil-Apps zur Ermittlung der Koordinaten im Gelände, Biotoptypen bzw. -listen, aber auch eine Einführung in die Schwerpunkte und Herausforderungen bei der Rote-Liste-Bearbeitung.
Seit Mai 2021 unterstützt die App „BODENTIER hoch 4“ die Erfassung von Myriapoden. Sie wurde vom Senckenberg Museum für Naturkunde entwickelt und beruht auf der gleichnamigen und bereits bestehenden Onlineplattform. Auch Myriapoden-Expertin Dr. Karin Voigtländer hat mit ihrem Fachwissen und Untersuchungsdaten dazu beigetragen.
Mit der neuen App werden auch interessierte Laien befähigt, die rund 260 heimischen Landassel-, Doppelfüßer- und Hundertfüßer-Arten zu bestimmen – mit der App auch offline von unterwegs. Webportal und App App bieten einen interaktiven Bestimmungsschlüssel und Informationen zu Verbreitung, Aussehen und Ökologie der verschiedenen Bodentierarten. So können Bürgerinnen und Bürger Funde an eine etablierte Forschungsdatenbank melden und sich so an der Erforschung der Bodentiere beteiligen. Die App steht kostenlos zum Download zur Verfügung.
Das Rote-Liste-Zentrum kann vorbereitende Arbeiten, die bereits Teil des Erstellungs- oder Aktualisierungsprozesses der Roten Listen Deutschlands sind, organisatorisch und finanziell unterstützen, besonders wenn sie wie in diesem Fall der Nachwuchsgewinnung dienen. Die Förderung zielt insbesondere auf jene Artengruppen, bei denen die Zahl der in Deutschland verfügbaren taxonomischen Expertinnen und Experten sehr gering ist: „Wir sind auf wissenschaftlichen Nachwuchs angewiesen – nur so werden wir in Zukunft genügend Fachleute haben, die die Roten Listen aktualisieren können“, so Dr. Karin Voigtländer.
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