Von der Rauschdroge Vogelbeobachtung, von überraschenden Stadtvogel-Begegnungen und warum man den Tag am besten auf dem Schnepfenstrich ausklingen lässt: Erfahrt hier, was unser Kollege mit dem Team "Doppelkornweihen" beim letzten Birdrace erlebt hat und warum es sich lohnt, auch dieses Jahr wieder mitzumachen.
Wer am Birdrace teilnimmt und freiwillig einen ganzen Tag lang Vögel beobachtet, um diese auf einer Liste abzuhaken, muss sich Fragen zu seinem Such(t)verhalten gefallen lassen:
Bundesweit sind jedes Jahr im Mai rund 850 Selbsthilfegruppen unterwegs, um diesen Fragen intensiv nachzuspüren und das eigene Trauma konfrontativ zu durchleben. Wir, die Doppelkornweihen, sind eine dieser Gruppen. Wir haben gelernt, mit unserer Abhängigkeit umzugehen und wollen auch andere ermutigen, sich nicht länger zu verstecken.
Bonn, die Bundesstadt im Herzen Mitteleuropas, eine brodelnde Megacity mit 2 ½ Wolkenkratzern und wuchernden Suburbs. Hier soll es noch Vögel geben? Keine leichte Aufgabe, in den Straßenschluchten zwischen Beton, Stahl und Glas die spärlichen Reste der Avifauna zu finden...
Aber es gibt sie tatsächlich, und Tiere im Ballungsraum verstehen es meisterlich, sich der technisierten Umwelt anzupassen. Der Große Buntspecht etwa hat gelernt, Telefon- und Stromleitungen effizient für die Partnersuche zu nutzen. Über Kabel verbreitete Signale erreichen anscheinend eine viel größere Zahl von Artgenossen als die rein akustischen Klopfzeichen.
Vor dem Birdrace-Termin werten wir stets aktuelle Hinweise auf ornitho.de aus. Auf diese Weise wissen wir genau, für welche Art wir wieder einmal zwei Tage zu spät unterwegs sind. Das ist ungeheuer motivierend.
Seit der Morgendämmerung haben zwei Teamkolleginnen von Oberkassel bis Beuel das Rheinufer aufgerollt und neben vielen anderen Arten die Nachtigall registriert — selbstverständlich nicht da, wo es dran steht. Ein Kollege hat sich von der Bonner Altstadt her aufgemacht, damit Stadttaube, Elster, Rabenkrähe und Haussperling nicht auf der Liste fehlen. Weiter am Rheinufer: Flussuferläufer und Feldschwirl sind abgehakt.
Kurz vor und auf dem Siegdeich hat man optimale Sicht über die artenreiche Auenlandschaft. Kuckuck, Hohltaube, Eisvogel, Pirol, Schwarzkehlchen, Braunkehlchen und Grauschnäpper bereichern schon die Liste. Besonders freuen wir uns über mehrere Kiebitze auf einem Acker nördlich von Geislar.
Erstmals in all den Jahren bekommen wir auf Bonner Gebiet den Neuntöter vors Fernglas. Eine schöne Überraschung! Weidezäune sind für viele Vögel beliebte Sitzwarten. Von dort aus erspähen sie Insektennahrung und potenzielle Feinde besser als vom Boden.
Unmittelbar an der Stadtgrenze hören wir eine weitere Art, die uns in den Vorjahren stets fehlte, den Gelbspötter. Sein Gesang, in den er Laute einstreut, die wie ein Quietsche-Entchen klingen, ist unverkennbar. Man muss dafür „nur“ das vielstimmige Konzert der gleichzeitig zwitschernden Heckenbraunellen, Grasmücken, Zaunkönige, Grünlinge, Stieglitze und Rauchschwalben ausblenden. Gelernt ist halt gelernt.
Jede neue Art wird akribisch notiert. Wichtig ist eine unauffällige Kleidung: Salbeiblütenblau und Wiesenknopfrot lassen uns auf den Magerrasen mit dem Hintergrund vollständig verschmelzen. Für die Vögel sind wir so gut wie unsichtbar.
Es geht wieder Richtung Rhein. Kurz nacheinander werden wir mehrfach von einem Schwarzmilan und einem Turmfalken überflogen. Der Falke saust dabei einmal dicht an unseren Köpfen vorbei – Zufall oder Attacke?
Bevor wir in den Bonner Süden fahren, machen wir noch den Abstecher zum Alten Friedhof an der Bornheimer Straße. In einer großen Platane sitzt dort der Alexandersittich in seiner Bruthöhle und wundert sich über fünf Menschen, die gleichzeitig ihre Ferngläser auf ihn richten. Der rote Schnabel dieser Art ist deutlich dicker, seine Stimme tiefer und weniger schrill als beim viel häufigeren Halsbandsittich.
Als geübte Beobachterinnen und Beobachter fallen uns im Stadtbild jede Menge komischer Vögel auf, von denen allerdings nicht alle auf der Anstreichliste landen. Bei diesem Termin begegnet uns auch ein Rothalsiges Grashähnchen (Oulema melanopus). Normalerweise lebt es an Getreide. Ob es wohl vom Gerstensaftgeruch des benachbarten Biergartens angezogen wurde?
Der Rheinauenpark ist symbolisch für die Weltoffenheit Bonns und die Globalisierung der Vogelfauna: Der südeuropäische Silberreiher trifft den australischen Schwarzschwan und die afrikanische Nilgans. Südasiatische Halsbandsittiche machen die Musik dazu.
Immer wieder scannen wir den Rhein, die Uferzone und die Gebüsche nach weiteren neuen Arten. Immerhin segeln dann doch noch ein paar Möwen über das Wasser. Die meisten sind Sturmmöwen. Nur bei der Bad Godesberger Fähre, wo Sehen-und-Gesehen-werden am Wochenende mehr internationales Publikum anlockt, posen endlich auch einmal zwei Mittelmeermöwen.
Vor der anstrengenden frühabendlichen Bergetappe hinauf zum Kottenforstplateau verlangt der ausgelaugte Organismus noch einmal nach Kohlenhydraten und Abkühlung. In Mehlem finden wir eine Versorgungsstation, die eine spezifische Diät bereithält (*like ice in the sunshine*). Leider hat der Girlitz, auf den wir in den Gärten in Mehlem, Lannesdorf oder Muffendorf hofften, bereits Feierabend.
Traditionell ist das Date mit der Waldschnepfe, die immer erst abends auf dem Strich anzutreffen ist, der letzte Programmpunkt beim Birdrace in Bonn. Und stets treffen wir bei dieser Gelegenheit auf andere Birdracer-Gruppen, obwohl wir weder Zeit noch Ort verabredet haben. Menschen, die immer nur das eine wollen, wissen eben genau, wo ihre Wünsche erfüllt werden. Fast 40 Minuten starren wir in den dunkler werdenden Himmel. Dann fliegt eine einzelne Waldschnepfe über uns hinweg.
Die Sinnfrage ist einmal mehr beantwortet.
Ein Erfahrungsbericht unseres Kollegen Dr. Günter Matzke-Hajek vom Birdrace 2022.
Jede/r kann mitmachen – vom „Grünschnabel“ bis zum Ornithologen, und zwar in ganz Deutschland. Der Spaß am gemeinsamen Beobachten und Bestimmen von Vogelarten steht im Vordergrund. Außerdem werden Spenden eingeworben – sie kommen dem Vogelschutz zugute. Das Einwerben von Spenden ist aber nicht Voraussetzung, um am Birdrace teilzunehmen. Veranstalter ist der DDA (Dachverband Deutscher Avifaunisten e.V).
Das Team der "Doppelkornweihen" besteht aus 5 Personen, darunter ein Mitarbeiter des Rote-Liste-Zentrums. Sie alle sind ausgewiesene Artenkenner*innen und nehmen seit 5 bzw. 8 Jahren gemeinsam am Birdrace teil. Sie beschränken sich streng auf das Gebiet der Stadt Bonn und legen alle Wege nur mit Fahrrädern zurück. Dabei erzielen sie beachtliche Erfolge bei der Vogelzählung und nicht zuletzt beim Einwerben von Spenden für den wissenschaftlichen Vogelschutz.
Im Jahr 2022 belegten die Doppelkornweihen mit 87 Arten (nur in Bonn!) im bundesweiten Ranking Platz 420, beim Einwerben von Spenden Platz 5. Die vorderen Plätze der Vogelzählung gehen regelmäßig an Teams an der Küste, die eine größere Habitatvielfalt und deutlich mehr Zugvögel bereithält als das Binnenland.