Der Waldrapp besitzt zwar ein metallisch glänzendes Gefieder und ist ein eleganter Flieger, aber bei einem Schönheitswettbewerb dürfte er ziemlich chancenlos sein. Der zur Ibis-Verwandtschaft gehörende Vogel mit der fleckigen Glatze und einem Büschel Federn am Hinterkopf wirkt eher wie ein eigenwillig gestylter Freak. Vielleicht gerade deshalb und weil fast 200 Jahre lang kaum ein Europäer ihn zu Gesicht bekam, ist er ein Faszinosum. In Deutschland gilt er noch als ausgestorben, doch ein internationales Artenschutz-Team bereitet ein Comeback vor. Der Waldrapp ist unsere Art des Monats November.
Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts starb der Waldrapp in Europa aus. Die Gewissheit, dass er früher zur deutschen Fauna gehörte, verdanken wir alten Illustrationen und Urkunden. Aus denen geht beispielsweise hervor, dass das Plündern seiner Nester oder das Schießen der Tiere bei Strafe verboten war. Die zarten Jungvögel galten als Leckerbissen. Die Wilderei in den Nistkolonien dürfte jedenfalls die Hauptursache für die Ausrottung der Art in Europa gewesen sein. Ob auch Klima- und Lebensraumveränderungen dazu beitrugen, ist unbekannt.
Bis auf wenige sicher lokalisierbare Vorkommen weiß man nicht genau, wo und wie lange Brutplätze in Süddeutschland und den Alpenländern existierten. Verwechslungen mit der Alpenkrähe und einem halben Dutzend anderer Vogelarten machen die Interpretation schriftlicher Quellen und schematischer Abbildungen schwierig. Der berühmte schwedische Naturforscher Carl Linné hielt den Waldrapp für eine Art Wiedehopf, und sowohl der deutsche als auch der wissenschaftliche Name sind missverständlich: Der Waldrapp, Geronticus eremita, ist weder ein Waldbewohner noch ein Einsiedler.
Seine Nahrung – Würmer, Insekten und kleine Echsen – erbeutet der Vogel stochernd und schreitend auf offenen Flächen z.B. in schütter bewachsenen Flussauen, aber auch auf Äckern und im mageren Grünland. Daneben brauchen Waldrappe steile und möglichst vegetationsfreie Felswände, nur dort nisten sie gesellig auf unzugänglichen Simsen und Absätzen. Früher waren Gemeinschafts-Brutplätze mit mehreren hundert Paaren bekannt, doch nach der Wiederentdeckung der Art im Nordwesten Afrikas sowie in der Türkei und in Syrien spielte man den einst kopfstarken Kolonien übel mit. Zwischenzeitlich galt die Art auch international als vom Aussterben bedroht.
Seit einiger Zeit wird versucht, den Waldrapp bei uns wieder heimisch zu machen. In Deutschland gibt es Wiederansiedlungsprojekte bei Überlingen am Bodensee (Baden-Württemberg) und bei Burghausen am Inn (Bayern). Dort werden in Gefangenschaft aufgezogene Jungvögel an das Leben in Freiheit gewöhnt, bis sie sich allein mit Nahrung versorgen können und ihr natürliches Verhalten zeigen.
Eine besondere Herausforderung besteht darin, den Tieren den Weg ins Winterquartier beizubringen. Zwar werden auch Waldrapp-Jungvögel im Herbst von einer „Zugunruhe“ erfasst, aber ohne Anleitung durch erfahrene Altvögel fliegen die an Menschen gewöhnten Tiere ziellos in beliebige Richtungen. In allen Projekten, auch denen in Nachbarländern, übernehmen deshalb erfahrene Piloten und Pilotinnen mit motorisierten Gleitschirmen die Elternrolle. Mit einer Gruppe von etwa 25 halbwüchsigen Waldrappen im „Schlepptau“ geht es dann Richtung Toskana oder Andalusien. Für die Reise dorthin braucht es vier bis sieben Wochen, inklusive zwischengeschalteter Ruhetage. Erst die geschlechtsreifen Waldrappe kehren nach zwei oder drei Jahren selbstständig in die Gebiete zurück, in denen sie aufgezogen wurden. Wenn alles gut läuft, verpaaren sie sich dort und gründen an bewachten Felsen oder künstlichen Brutwänden eigene Familien.
Der langfristige Erfolg der Projekte bleibt abzuwarten. Die Kolonien müssen noch um mindestens 100 fortpflanzungsfähige Tiere anwachsen, bevor von selbsttragenden Populationen gesprochen werden kann. Bis dahin wird der Waldrapp wohl oder übel noch als „ausgestorben“ in der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands stehen, denn auch die frei fliegenden Tiere bei Überlingen und Burghausen sind ganz überwiegend in menschlicher Obhut aufgezogen worden und können bisher nicht als echte Wildvögel gelten.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass einige Fachleute das Geld, das für die Wiederansiedlung der Waldrappe in Mitteleuropa aufgewendet wird, lieber in andere Naturschutzprojekte investiert sähen. Sie befürchten, dass viele Arten, denen es ähnlich schlecht geht wie dem Waldrapp, zugunsten dieses einen „Promis“ vergessen werden könnten.
Eines haben die Waldrapp-Projekte aber schon jetzt bewiesen: Eine ausgestorbene Art „zurückzuholen“ ist viel schwieriger als hochgradig gefährdete, aber noch vorhandene Arten vor dem Aussterben zu bewahren.
Brutvögel Deutschlands: Dachverband deutscher Avifaunisten (DDA)