Die Alpenspitzmaus ist die seltenste der vier in Deutschland vorkommenden Rotzahnspitzmäuse. Anders als ihr Name vermuten lässt ist sie nicht auf alpine Hochlagen beschränkt – und sie ist auch keine Maus. Sie tritt bzw. trat auch in einigen Mittelgebirgen auf, so im Schwarzwald, Bayerischen Wald, Fichtelgebirge, in der Rhön, im Zittauer Gebirge und im Harz. Diese isolierten Vorkommen werden als Glazialrelikte angesehen.
Im Harz ist die Alpenspitzmaus (Sorex alpinus) allerdings seit den 1950er Jahren trotz gezielter Nachsuchen nicht mehr nachgewiesen worden. Auch im Fichtelgebirge könnte sie mittlerweile erloschen sein. In den verbleibenden Mittelgebirgen sind ihre Populationen auf nur kleinflächig ausgeprägte Habitattypen wie von Blockschutt und Geröll durchsetzte Hangwälder und Hochstaudenfluren an Fließgewässern beschränkt. Vermutlich sind einige Subpopulationen bereits voneinander isoliert. Den besiedelten Lebensräumen gemeinsam ist eine niedrige Jahrestemperatur, hohe Niederschlagsmengen und ein spalten- und versteckreicher Boden mit feucht-kühlem Mikroklima. Die Alpenspitzmaus gilt daher als stenöke Art mit sehr speziellen Ansprüchen.
Alpenspitzmäuse sammeln ihre Beute, die aus Asseln, Insekten, Regenwürmern und Schnecken besteht, bevorzugt im Spaltensystem des Bodens. Hierbei sind ihre überproportional langen Unterschenkel und Hinterfüße gute Kletterhilfen. Ihr Schwanz ist körperlang und damit deutlich länger als bei den anderen heimischen Spitzmäusen. Er dient ebenfalls als Balancier- und Stützhilfe. Durch die Bevorzugung von Bodenspalten vermeidet die Alpenspitzmaus die Konkurrenz mit der Waldspitzmaus (Sorex araneus) und der Zwergspitzmaus (Sorex minutus), die den gleichen Lebensraum besiedeln können, aber eher in der Laubstreu und an der Bodenoberfläche jagen. Spitzmäuse gehören trotz ihres mausähnlichen Aussehens nicht zu den Mäusen oder Nagetieren, sondern bilden eine eigene Familie.
Während sie in den Mittelgebirgen meist in bachnahen Habitaten gefunden wird, ist ihre Gewässerbindung oberhalb der Baumgrenze schwächer ausgeprägt. In den Alpen kann sie auch in Zwergstrauchheiden, alpinen Rasen, Almweiden und Blockhalden vorkommen. Solche Nachweise stammen aus Höhen bis 2.500 m üNN. Schon der Schweizer Naturforscher Heinrich Rudolf Schinz (1777-1861), der Erstbeschreiber der Alpenspitzmaus, schrieb: „Wovon diese Thiere auf solchen Höhen, besonders im langen Winter leben, ist schwer zu erklären“. Schinz hatte die Art im Gotthardgebiet auf etwa 2.200 Meter Höhe festgestellt. In den deutschen Alpen scheint Sorex alpinus noch weit verbreitet und stetig zu sein, über die Vorkommensdichte in anderen süddeutschen Gebirgen liegen dagegen weniger Informationen vor.
Da Deutschland mehr als 10 % aller bekannten Vorkommen dieser rein europäischen Art beherbergt, ist die Bundesrepublik Deutschland in hohem Maße für ihre Erhaltung verantwortlich.
In der Roten Liste der Säugetiere Deutschlands ist die Alpenspitzmaus in die Kategorie „Gefährdung unbekannten Ausmaßes" (Kat. G) eingestuft, denn Rückgänge in den Teilarealen verlaufen, soweit festgestellt, uneinheitlich oder es liegen nicht genügend Daten vor. Bedeutendster Gefährdungsfaktor, sowohl historisch als auch aktuell, sind Veränderungen der Feuchteverhältnisse in ihren Lebensräumen, aktuell besonders während ausgeprägter Sommerdürren, die lokal zum Absterben des Baumbestands führen können. Weitere Gefährdungsursachen sind Wintersportanlagen und Stauseen. Gerade Landschaftseingriffe, die den Wasserhaushalt verändern, sollten vermieden werden.
In den Mittelgebirgen werden sich die Lebensbedingungen für die Alpenspitzmaus durch die Klimaerwärmung wahrscheinlich weiter verschlechtern. Zunehmender Trockenheit wird die Art nur durch einen „Aufstieg“ in höhere Lagen entgehen können, doch der Raum nach oben ist begrenzt.
Ein Beitrag von Holger Meinig
Der Zoologe ist Säugetier-Spezialist sowie Erstautor und Koordinator der Roten Liste der Säugetiere Deutschlands 2020. Weitere Tätigkeiten: Mitarbeit an den Roten Listen der IUCN für Europa (EMMA 2007) und des Mittelmeerraumes (2008), Koordination und Mitarbeit an den Checklisten und Roten Listen Säugetiere Deutschland (2009) und NRW (2011).
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