Es handelt sich natürlich nicht wirklich um Kartoffeln, aber die Tiere sehen ihnen auf den ersten Blick durchaus ähnlich: Gemeint sind die in der Nordsee lebenden Herzigel, die zu den Seeigeln gehören. Während einige Herzigel als ungefährdet gelten, sind andere vom Aussterben bedroht.
Herzigel, auch Herzseeigel genannt, haben eine ovale, leicht abgeflachte Form. Vor allem sind es ihre Stacheln, die ihnen ein kartoffelähnliches, pelziges Erscheinungsbild verleihen. Im Gegensatz zu anderen Seeigelarten sind die Stacheln der Herzigel nicht lang, spitz und abstehend, sondern kurz, braun-gelblich, relativ dünn, dazu dicht, weich und meist flach anliegend.
Es gibt fünf Arten bei uns in der Nordsee: Der Gemeine Herzigel (Echinocardium cordatum), der Große Herzigel (Echinocardium pennatifidum), der Nordische Herzigel (Echinocardium flavescens), der Leier-Herzigel (Brissopsis lyrifera) und der Purpurne Herzigel (Spatangus purpureus). Letzterer ist zwar nicht braun, aber es gibt ja auch blaue Kartoffeln.
Alle fünf Herzigel-Arten leben im Sediment eingegraben. Individuen, die ausgegraben oder freigespült werden, sind in der Lage sich mit Hilfe ihrer Stacheln schnell wieder einzugraben. E. cordatum und E. flavescens bevorzugen als Sediment feinen Sand, der auch etwas schlickig sein darf, während E. pennatifidum und S. purpureus auf grobem Sand mit Kiesanteilen vorkommen. B. lyrifera dagegen findet man in schlickigem Sediment. So hat jede „Seekartoffel-Art“ ihren bevorzugten Meeresboden.
Herzigel ernähren sich von feinen Bodenpartikeln, Algen und winzigen Bodentieren, die sie langsam wühlend im Boden finden. Dabei lockern sie das Sediment mit ihren Stacheln auf der Vorderseite und transportieren es über ihren Rücken hinweg auf die Rückseite.
Herzigel tragen damit zur Bioturbation im Meeresboden bei. Mit ihren am Mund sitzenden langen Mundfüßchen schaufeln sie sich im Boden versteckte Kieselalgen, Muschellarven und Kammerlinge heran.
Wenn Herzigel in Massen auftreten, können sie einen großen Einfluss auf die Zusammensetzung von Ökosystemen haben. So können sie zum Beispiel Algenmatten in kürzester Zeit kahlfressen.
Herzigel können eine Größe von bis zu 10 cm und ein Alter von bis zu 10 Jahren erreichen. Wie auf einem richtigen „Kartoffelacker“ findet man in manchen Teilen der Deutschen Bucht Herzigel in Kolonien von bis zu 20 (in Extremfällen sogar bis zu 200) Exemplaren pro Quadratmeter am Meeresgrund. So kommt es nicht selten vor, dass einem beim wissenschaftlichen Arbeiten auf See keine Fische, sondern eine reiche "Kartoffelernte“ ins Netz geht.
Die Fortpflanzung des Herzigels findet im Frühjahr statt und ist eher unspektakulär. Beide Geschlechter geben ihre Eier und Spermien in großen Mengen ins Wasser ab; die daraus entstehenden Pluteuslarven werden Teil des Zooplanktons.
Deutlich spannender stellt sich die anschließende Metamorphose von der Larve zum adulten Seeigel dar, deren zeitlicher Verlauf von der Größe der Eier abhängt. An der linken Körperseite der zunächst spiegelsymmetrischen Schwimmlarve wächst ein fünfstrahliger Fortsatz, aus dem der spätere Herzigel entsteht. Der ursprüngliche Embryo schrumpft und wird abgeworfen. Anschließend vollzieht die Larve eine Formänderung; Vorder- und Hinterende werden neu festgelegt. Dieser sogenannte doppelte Wechsel des Bauplanes wiederholt im Zeitraffertempo die komplizierte Entstehung der Herzigel im Laufe der Evolution.
Da Herzigel keine Saugplatten an den Enden ihrer Füßchen besitzen, können sie sich nur sehr langsam durch das Sediment fortbewegen. Sie sind damit potenziellen Fressfeinden stark ausgeliefert. Ihre Schale ist sehr zerbrechlich; das begehrte „Innere“ ist also vergleichsweise leicht erreichbar. Aber wer frisst die „pelzigen Kartoffeln“? Junge Herzigel werden u.a. von verschiedenen Plattfischen (Scholle, Kliesche, Zwergzunge) oder vom Schellfisch gefressen. Neben Seevögeln haben manche Schnecken und Seesterne auch ausgewachsene Herzigel auf ihrem Speiseplan.
In den „Bauten“ der Herzigel finden sich häufig „Tischgenossen“, so genannte Kommensalen. Hierbei handelt es sich um eine Interaktion zwischen Individuen verschiedener Arten, die für Angehörige der einen Art positiv (Kommensale), für die der anderen Art neutral ist (Herzigel). Ein typischer Kommensale von E. cordatum ist die Längliche Linsenmuschel Tellimya ferruginosa, während die Schwesterart Tellimya tenella sich bei B. lyrifera aufhält. Auch der Flohkrebs Urothoe marina findet sich häufig bei Herzigeln.
Mit Ausnahme des Purpurseeigels (Spatangus purpureus) sind Herzigel in der Roten Liste der bodenlebenden wirbellosen Meerestiere als ungefährdet oder mit einer Gefährdung unbekannten Ausmaßes eingestuft. Der Purpurseeigel gilt in der deutschen Nordsee als extrem selten und wird aufgrund fortdauernder Bestandsabnahmen derzeit als vom Aussterben bedroht betrachtet. Die negativen Bestandsänderungen sind v.a. auf die Bodenfischerei zurückzuführen, da Seeigel durch ihre Zerbrechlichkeit gegenüber physischer Störung sehr empfindlich reagieren. Hinzu kommen klimatische Einflüsse und die Versauerung der Meere.
Ein Beitrag von Dr. Sabine Schückel und Dipl.-Biologin Petra Nehmer
Dr. Sabine Schückel ist seit 2011 Mitarbeiterin bei der BioConsult GmbH & Co. KG und beschäftigt sich mit der Taxonomie des marinen Makrozoobenthos und der Fischfauna sowie mit benthischen und fischfaunistischen Felduntersuchungen. Im Auftrag des Rote-Liste-Zentrums koordiniert sie die Vorarbeiten zur Erstellung der neuen Roten Liste der bodenlebenden wirbellosen Meerestiere.
Dipl.-Biologin Petra Nehmer ist seit 2018 Mitarbeiterin bei BioConsult. Neben der Bestimmung von Meeresorganismen ist sie für die Qualitätssicherung im Bereich des marinen Makrozoobenthos zuständig. Sie arbeitet ebenfalls an den Vorarbeiten zur Erstellung der neuen Roten Liste mit.
Rote Liste
Rachor, E., Bönsch, R., Boos, K., Gosselck, F., Grotjahn, M., Günther, C.-P., Gusky, M., Gutow, L., Heiber, W., Jantschik, P., Krieg, H.-J., Krone, R., Nehmer, P., Reichert, K., Reiss, H., Schröder, A., Witt, J. & Zettler, M. L. (2013). Rote Liste und Artenlisten der bodenlebenden wirbellosen Meerestiere. In: Becker, N., Haupt, H., Hofbauer, N., Ludwig, G., Nehring, S. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, Band 2: Meeresorganismen. Münster (Landwirtschaftsverlag). Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (2): 81-176.
Die Rote Liste-Daten sind hier als Download verfügbar. Für einen schnellen Überblick ist eine Gesamtartenliste mit Gefährdungsstatus erhältlich.
Literatur