In Deutschland kommen keine Skorpione vor, wohl aber die habituell ähnlichen Pseudoskorpione, die jedoch keinen Giftstachel besitzen und allenfalls einige Millimeter groß werden. Wegen ihrer versteckten Lebensweise sind sie selbst naturkundlich versierten Menschen oft unbekannt. Der Strand-Pseudoskorpion beispielsweise kommt oft in großer Anzahl in unmittelbarer Nachbarschaft von Badestränden vor.
In Deutschland gibt es 50 verschiedene Arten von Pseudoskorpionen. Die Mehrzahl von ihnen lebt in der Laubstreu von Wäldern, in Moospolstern, unter Rinde und im Mulm von Baumhöhlen, weitere finden sich in Ställen, Scheunen und alten Wohngebäuden (Bücherskorpion) und wenige haben sich noch gänzlich andere Lebensräume erschlossen. Der Strand-Pseudoskorpion etwa lebt fast ausschließlich in den Büscheln („Horsten“) des auf Dünen wachsenden Strandhafers (Ammophila arenaria).
Die taxonomische Stellung des Strand-Pseudoskorpions war lange unklar. Jahrzehntelang wurde er als Unterart des weiter verbreiteten Dactylochelifer latreillii angesehen, und als solche auch in der Roten Liste der Pseudoskorpione geführt. Die letzten Nachweise aus Deutschland – von den Nordseeinseln Sylt, Helgoland, Spiekeroog – lagen mehr als 50 Jahre zurück. Deshalb beauftragte das Rote-Liste-Zentrum im Jahr 2022 eine gezielte Nachsuche. Diese war erfolgreich: Nicht nur auf den Nordseeinseln Borkum, Langeoog und Helgoland konnten die Vorkommen bestätigt werden, auch auf den Ostseeinseln Rügen und Usedom wurden erstmals Strand-Pseudoskorpione aufgespürt. Wenn die geeignete Erfassungstechnik angewendet wird – kräftiges Ausklopfen von Strandhaferbüscheln über einem weißen Blumentopf-Untersetzer – scheint die Art vielerorts im deutschen Küstengebiet nachweisbar.
Die neuerliche Beschäftigung mit den Tieren gab Anlass, auch deren Taxonomie unter Berücksichtigung von DNA-Analysen neu zu beleuchten. Für Eingeweihte kam es nicht unerwartet, dass sich der Strand-Pseudoskorpion als eigene Art erwies. Überraschend war jedoch, dass der Artname Dactylochelifer latreillii exklusiv auf den Strand-Pseudoskorpion zu beziehen ist. Für die früher so bezeichnete im Binnenland verbreitete Art wurde der Name Dactylochelifer degeerii reaktiviert, der im Jahr 1835 vom Regensburger Kreisforstrat und Zoologen Carl Ludwig Koch vergeben worden war.
Ungeachtet der taxonomischen Unklarheiten in der Vergangenheit ist die Biologie des Strand-Pseudoskorpions erstaunlich gut bekannt. Insbesondere die faszinierenden Balz- und Paarungstänze haben schon frühzeitig das Interesse der Naturforscher geweckt. Bei Pseudoskorpionen gibt es keine Kopulation, die Männchen setzten Samenpakete – die so genannten Spermatophoren – ab, aus denen die Weibchen die Spermien entnehmen. Um die Samenübertragung auch in trockenen Lebensräumen zu gewährleisten, haben die Cheliferidae, zu denen Dactylochelifer gehört, raffinierte Verhaltensweisen entwickelt. Bei der Balz ergreifen die Männchen zunächst die Scheren des Weibchens und stülpen ihre „widderhornartigen Organe“ aus, die mit einem duftenden Sekret überzogen sind. Dann tanzen beide eine Weile vor und zurück, ohne einander zu berühren, wobei das Männchen vibrierende Bewegungen ausführt. Schließlich setzt das Männchen seine Spermatophore ab und wartet, bis das Weibchen genau darüber steht. Nun packt es die Partnerin und öffnet mit seinen Vorderbeinen die weibliche Geschlechtsöffnung, um die Spermatophorenspitze einzuführen. Das gesamte Ritual dauert ca. 10-30 Minuten und wurde bereits 1912 von dem englischen Amateurforscher Harry Wallis Kew – im Hauptberuf Bankangestellter – detailliert beschrieben.
In der aktuellen Roten Liste wurde der Strand-Pseudoskorpion (dort noch als Dactylochelifer latreillii septentrionalis) in Kategorie G, d.h. Gefährdung unbekannten Ausmaßes, eingestuft. Diese Einschätzung konnte aus der engen Bindung der Art an Weiß- und Graudünen abgeleitet werden: Da die genannten Küstendünen nach der Roten Liste der gefährdeten Biotoptypen Deutschlands als gefährdet bis stark gefährdet gelten bzw. auf der Vorwarnliste stehen, ist auch von einer Gefährdung des Strand-Pseudoskorpions auszugehen.
Ein Beitrag von Dr. Christoph Muster
Der Diplom-Biologe ist Spezialist für Spinnentiere und freiberuflich tätig. Er hat an der Erstellung von Checklisten und Roten Listen auf Bundes- und Landesebene mitgewirkt und ist Autor der Roten Liste der Pseudoskorpione Deutschlands. Aktuell koordiniert er die Neufassungen der Roten Listen der Spinnentiere Deutschlands. Info: www.christoph-muster.de
Aktuelle Rote Liste
Muster, C. & Blick, T. (2016): Rote Liste und Gesamtartenliste der Pseudoskorpione (Arachnida: Pseudoscorpiones) Deutschlands. – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70(4), 539–561.
Literatur