Dem Bodentier-Experten Dr. Jörg Spelda gelang in Bayern der Nachweis einer aus Deutschland unbekannten Art, die nun in die Rote Liste der Doppelfüßer aufgenommen wird. Es handelt sich um eine echte Überraschung: Gesucht hatte er eigentlich nach etwas anderem.
Das Rote-Liste-Zentrum hatte Dr. Jörg Spelda mit einer systematischen Suche nach seltenen bzw. verschollenen Doppel- und Hundertfüßern beauftragt, als Vorbereitung für die nächste Rote Liste Deutschlands. Im November 2021 hielt er im Bayerischen Wald und im Donautal insbesondere nach Leptoiulus weberi und Geophilus pygmaeus Ausschau – vergebens.
Dafür entdeckte er Haplogona oculodistincta und fand damit nicht nur eine für Deutschland neue Art, sondern sogar eine für Deutschland neue Familie (Verhoeffiidae) aus der Klasse der Doppelfüßer. Die Art war bisher nur aus Österreich und den benachbarten Balkanstaaten bekannt und ist ein Anzeiger für alte intakte Waldstrukturen. Die vier Arten der Diplopodenfamilie Verhoeffiidae sind in den Südalpen, auf der Apenninen-Halbinsel und dem nördlichen Balkan beheimatet.
Außerdem gelang Spelda der Nachweis des Hundertfüßers Clinopodes flavidus, der bisher nur in der Literatur der 1930er Jahre für Deutschlands erwähnt wurde. Ein überprüfbarer Nachweis fehlte bislang: Bei den Vorarbeiten zur letzten Roten Liste war es der Autorengemeinschaft nicht gelungen, aktuellere Funde zu ermitteln oder in den Museen Belegmaterial dieser Art zu finden. Lediglich je ein Tier aus der Zoologischen Staatssammlung München enthielt ein Etikett mit der Fundortangabe Bayern bzw. Schlesien. Da eine Fundortverwechslung nicht ausgeschlossen werden konnte, wurde damals auf eine Bewertung der Art verzichtet. Der aktuelle Fund von 2021 bestätigt nun Clinopodes flavidus erstmals für Deutschland.
Beide Arten können jetzt in die Roten Listen Deutschlands aufgenommen werden: Sie werden in die Inventarliste der in Deutschland vorkommenden Biodiversität aufgenommen und außerdem hinsichtlich ihres Gefährdungsstatus bewertet. Die derzeitigen Roten Listen der Doppelfüßer und der Hundertfüßer erschienen im Jahr 2016 und sollen bald aktualisiert werden.
Bei der Exkursion im November 2021 untersuchte Dr. Jörg Spelda 15 potenziell geeignete Standorte im Bayerischen Wald, dem Inn- und dem Donautal. Im Fokus standen mit Mischwald bewachsene Schluchten und Felshabitate mit Felsschutt/Blockhalden.
Insgesamt fand der Forscher 12 Hundertfüßerarten und 20 Doppelfüßerarten, darunter den extrem seltenen Steinläufer Lithobius punctulatus. Zwei weitere, seltene Doppelfüßer (Cylindroiulus meinerti und Orthochordeumella pallida) waren in diesem Gebiet nicht erwartet worden und weisen – ebenso wie der Fund von Haplogona oculodistincta – auf einen Faunenaustausch mit den Alpen über das Inntal hin.
Die Funde werden in Biodiversitätsdatenbanken eingegeben und fließen in die nächsten Roten Liste ein. Die ausführlichen Ergebnisse der Nachsuche sollen außerdem in einer Fachzeitschrift publiziert werden. Dr. Jörg Spelda ist Experte für Myriapoden (Doppel- und Hundertfüßer) und engagiert sich ehrenamtlich am Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz.
Doppelfüßer (Diplopoda), die sich durch zwei Beinpaare pro Körpersegment auszeichnen, gehören mit den Hundertfüßern (Chilopoda) sowie Zwerg- und Wenigfüßern (Symphyla und Pauropoda) zu den Tausendfüßern (Myriapoda). Umgangssprachlich wird der Begriff Tausendfüßer fälschlicherweise nur für die Klasse der Doppelfüßer verwendet. Auch wenn es Arten gibt, die weit über hundert Beine haben, so gibt es in Deutschland keinen Tausendfüßer, der tatsächlich tausend Beine hat. In der letzten Roten Liste Deutschlands wurden 56 Hundertfüßerarten aufgeführt sowie 122 Doppelfüßerarten und -unterarten.
Im Zuge der vorbereitenden Arbeiten der Roten Listen Deutschlands setzt das Rote-Liste-Zentrum neben der Auswertung von verfügbaren Daten und Monitoring-Ergebnissen auf Nachsuchen. Diese zielgerichteten Kartierungen beziehen sich immer auf Einzelarten, die entsprechend der aktuell gültigen Roten Liste als ausgestorben oder verschollen, vom Aussterben bedroht, extrem selten oder stark gefährdet gelten. Dabei untersuchen Experten und Expertinnen der jeweiligen Organismengruppen an bekannten Standorten historischer Verbreitung oder in anderen potenziell für die Art geeigneten Lebensräumen, ob die Zielart dort (noch) vorkommt oder nicht. Diese Strategie hat sich als sehr effektiv erwiesen und dazu geführt, dass der Gefährdungsgrad dieser Arten oft genauer eingeschätzt werden kann und die Aussagekraft der jeweiligen Roten Liste weiter verbessert wird.
Auch wenn Funde wie die des neuen Doppelfüßers sehr gute und freudige Nachrichten sind: Oftmals ist das Ergebnis der Nachsuchen negativ. Auch das ist ein wichtiges Resultat, zeigt es doch, dass ein wirksamer Habitatschutz unverzichtbar ist, um das Aussterben von weiteren Tier-, Pflanzen- und Pilzarten in Deutschland zu verhindern.
Die bundesweiten Roten Listen dokumentieren auf wissenschaftlicher Grundlage und in verdichteter Form die Gefährdung der einheimischen Arten. Sie enthalten nicht nur die gefährdeten, sondern jeweils alle Arten der jeweiligen Organismengruppen; es handelt sich also auch um Inventarlisten der in Deutschland vorkommenden Biodiversität. Damit sind sie ein stets verfügbares Fachgutachten und ein Frühwarnsystem für die Entwicklung der biologischen Vielfalt.
Das Rote-Liste-Zentrum koordiniert seit Dezember 2018 im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) die Erstellung der bundesweiten Roten Listen. Es unterstützt die Autorinnen und Autoren sowie weitere beteiligte Fachleute der Roten Listen, indem es sie bei der Erstellung fachwissenschaftlich begleitet und Kosten für die Koordination, die Arbeitstreffen der Fachleute und andere vorbereitende Arbeiten übernimmt. Das Bundesumweltministerium fördert das Zentrum mit jährlich 3,1 Millionen Euro.