Vom Mäusefänger zum Säugetierspezialisten

Ein Interview mit Holger Meinig, Erstautor der neuen Roten Liste der Säugetiere Deutschlands

„Maus ist nicht gleich Maus“, ist schon dem jungen Holger Meinig aufgefallen, als er auf Futtersuche für verletzte Eulen ging. Heute ist der Zoologe einer der führenden Säugetier-Experten Deutschlands, Herausgeber von rund 140 Fachpublikationen und Erstautor der neuen Roten Liste der Säugetiere Deutschlands. Im Interview berichtet er über seinen persönlichen Werdegang, clevere Mäuse und wie man auch mit kleinen Aktionen viel für den Naturschutz erreichen kann.

Herr Meinig, haben Sie sich schon immer für Säugetiere interessiert?

Nein, als Junge habe ich mich für Salamander und Frösche begeistert. Und für Vögel – verletzte Exemplare habe ich nach Hause mitgenommen und gesund gepflegt. Über diesen Umweg bin ich zu den Säugetieren gekommen, denn das Taschengeld war knapp und ich musste Futter besorgen – also habe ich Mäuse gefangen. Und dabei ist mir aufgefallen: Maus ist nicht gleich Maus. Ich wollte wissen, was mir in die Falle gegangen war. Im Naturkundemuseum bei mir in der Nähe habe ich zur gleichen Zeit einen Mikroskopierkurs gemacht. Das Wuppertaler Fuhlrott-Museum war damals, in den 70er Jahren, eine Keimzelle des Naturschutzes: Dort habe ich Menschen kennengelernt, die mich für Zoologie begeistert haben.

Da sieht man, wie wichtig es ist, dass es auch für Jugendliche gute Angebote gibt! Und wie sind Sie zu den Roten Listen gekommen?

Ich habe seit Ende der 80er Jahre an der „Faunistischen Erfassung der Säugetiere im Rheinland“ mitgearbeitet und untersucht, wo welche Arten verbreitet sind. Das war spannend! Von da führte der Weg zur Mitarbeit an der Säugetier-Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN für Europa. Als ich dann gefragt wurde, ob ich an der Roten Liste der Säugetiere Deutschlands 2009 – dem Vorgänger der aktuellen Roten Liste – arbeiten und auch die Koordination übernehmen möchte, habe ich sofort „ja“ gesagt. Genauso wie jetzt für die neue Rote Liste der Säugetiere.

Warum engagieren Sie sich bei den Roten Listen?

Holger Meinig kontrolliert einen vom Siebenschläfer bewohnten Nistkasten.

Siebenschläfer gelten in Deutschland als ungefährdet, werden aber in den Gesamtartenlisten der Roten Liste der Säugetiere aufgeführt. Hier kontrolliert Holger Meinig einen vom Siebenschläfer bewohnten Nistkasten.  

Foto: Conny Oberwelland

Naturschutz ist für mich die größte Motivation, zusammen mit dem Interesse, Dinge zu verstehen und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Und auch ganz direkt mit Tieren arbeiten zu können, bei Untersuchungen draußen in der Natur – ich habe im Laufe meines Lebens so ziemlich alles in den Fingern gehabt, was in Deutschland vorkommt.

Das alles finde ich bei der Arbeit an den Roten Listen, sie schaffen auch immer neue Erkenntnisse. Es wurde beispielsweise vor kurzem festgestellt, dass es sich bei der europaweit verbreiteten „Fransenfledermaus“ um mehrere verschiedene Arten handelt, die sich auf den ersten Blick sehr ähnlich sehen – in der aktuellen Roten Liste wird das genauer erläutert. Durch die Aufspaltung ist das Verbreitungsgebiet der jeweiligen Arten kleiner als bisher vermutet, so dass Deutschland jetzt für den weltweiten Erhalt der einen Art, nämlich der „echten“ Fransenfledermaus Myotis nattereri „in hohem Maße verantwortlich“ ist. Dies hat direkte Auswirkung auf Naturschutzmaßnahmen.

Ein Rote-Liste-Autor muss auch erfinderisch sein...

Fotofalle zum Nachweis der Waldbirkenmaus.

Fotofalle zum Nachweis der Waldbirkenmaus.
 

Foto: Holger Meinig

Nun, es hilft manchmal! Es gibt scheue Tiere, wie die extrem seltene Waldbirkenmaus, die man überlisten muss: Die nur 5 cm große Maus geht nicht in die üblichen Fallen, guckt aber gerne in die Kamera. Wir haben dafür eine spezielle Fotofalle benutzt. Die hatte ein norwegischer Kollege so umgebaut, dass sie auch den Nahbereich fotografiert. Gemeinsam haben wir sie in Deutschland ausprobiert und schon in der ersten Nacht einen der Winzlinge erfasst.

Man findet die Waldbirkenmaus in Schleswig-Holstein, dem Allgäu und dem Bayerischen Wald: dort hüpft sie an wenigen Stellen und sehr versteckt durch Feuchtwiesen und Niedermoore, wenn sie nicht gerade ihren 8-monatigen Winterschlaf hält. Man versucht dort jetzt, Waldbirkenmäuse zu fangen und zu markieren. Mal schauen, wer cleverer ist – Maus oder Forscher…

Das ist wirklich ein Erfolgserlebnis! Gibt es weitere „Glücksmomente“?

Große Freude macht mir das Projekt „Spurensuche Gartenschläfer“ aus dem Bundesprogramm Biologische Vielfalt. Es verfolgt einen Citizen-Science-Ansatz, in dem wir die Bevölkerung über den Gartenschläfer aufklären und ermuntern, Sichtungen der seltenen Tiere zu melden. Das funktioniert sehr gut und langsam setzt sich die Erkenntnis durch: Das ist kein Schädling, der meine Äpfel annagt, sondern etwas ganz Besonderes. Denn ein großer Teil der weltweiten Gartenschläfer-Gebiete liegt in Deutschland, so dass Deutschland eine besondere Verantwortung dafür hat, diese Art zu erhalten.

Während der Gartenschläfer (Eliomys quercinus) in einigen Teilen von Rheinland-Pfalz, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg als Kulturfolger auftritt, lebt die Art im Osten Deutschlands in den Hochlagen der Mittelgebirge. Europaweit ist ein starker Bestandsrückgang dieser kontrastreich gefärbten Schlafmaus festzustellen, Gründe hierfür sind nicht bekannt. In Deutschland ist er „stark gefährdet“.

Europaweit ist ein starker Bestandsrückgang des Gartenschläfers (Eliomys quercinus) festzustellen, Gründe hierfür sind nicht bekannt. In Deutschland ist er „stark gefährdet“.

Foto: Sven Büchner

Das Verbreitungsgebiet der kleinen Schlafmaus mit der auffälligen „Zorro“-Maske ist während der letzten 50 Jahre um fast die Hälfte geschrumpft, ohne dass Gründe für diesen dramatischen Rückgang bekannt wären. „Spurensuche Gartenschläfer“ hat dazu beigetragen, Verbreitungsdaten zu gewinnen, die Daten sind in die neue Rote-Liste eingeflossen. Hier konnten wir erstmals das Ausmaß seiner Gefährdung benennen, der Gartenschläfer ist als „stark gefährdet“ gelistet. Aber es gibt noch viel zu forschen. Wir wissen z.B. immer noch nicht, wo und warum sich der Gartenschläfer ansiedelt – das ist manchmal wie ein Krimipuzzle: der Schläfer kann z.B. auch verschleppt werden, das heißt, er kann weit weg von seiner ursprünglichen Heimat auftauchen. Sogar in Ausgrabungen der römischen Siedlung Xanten am Rhein, ein Bereich, der nicht zum natürlichen Verbreitungsgebiet der Art zählt, hat man ihn gefunden – vielleicht war er als Anhalter mit einem Schiff aus dem Süden mitgereist.

Es gab sicherlich auch Rückschläge in ihrer Forschungsarbeit...

Ich habe von einigen Jahren versucht, die extrem seltene Alpenwaldmaus nachzuweisen. Den letzten Fund gab es 2004 in den bayerischen Alpen – ein einziges Exemplar! - und davor einige Nachweise in den 1950er Jahren. Mir ist es 2017 und 2018 trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen, ein Tier zu finden. Ich gebe aber die Hoffnung nicht auf, dass die Mäuse cleverer waren als der Forscher, und diese Mäuseart doch noch in Deutschland existiert.

Lassen Sie uns nochmal über die Roten Listen sprechen: Welche besonderen Herausforderungen gab es bei der Erstellung der neuen Säugetierliste?

Im Kern werden bei der Erstellung aller Roten Listen die gleichen Arbeitsschritte durchgeführt: zunächst die Aktualisierung der Checklisten, parallel dazu die Datensammlung und dann die Gefährdungsanalyse und Auswertung. Bei den Säugetieren wird die Arbeit jedoch durch die heterogene Datenlage erschwert. Das Interesse der Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft an den einzelnen Arten ist leider unterschiedlich groß.

Recht gut ist die Datenlage für besonders geschützte Arten und Großraubtiere, die intensiver beobachtet werden oder auch für jagdbare Arten und für Arten, die als Verkehrsopfer gezählt werden. Auch über Fledermäuse weiß man viel, Stichwort „Gebäudesanierungen“. Dagegen gibt es oft nur wenige oder nur lokale Erhebungen zu Kleinsäugern wie Mäusen, obwohl sie extrem wichtig für das Ökosystem sind: sei es als Habitatbildner oder als Nahrung für Beutegreifer. Hierzu würde ich mir mehr Forschung wünschen. Auch zu den kleineren Raubtieren, z. B. zu Wieseln und Mardern gibt es wenige Daten.

Was muss man mitbringen, um an Roten Listen mitzuarbeiten, was wäre ein guter Einstieg für junge Leute?

Kurze Rast: Sven Büchner und Holger Meinig (rechts) auf Nachsuche für das Projekt „Spurensuche Gartenschläfer“ im Nationalpark Bayerischer Wald. Zu ihren Füßen einige Lebendfallen. (Foto: Václav Mikeš)

Kurze Rast: Sven Büchner und Holger Meinig (rechts) auf Nachsuche für das Projekt „Spurensuche Gartenschläfer“ im Nationalpark Bayerischer Wald. Zu ihren Füßen einige Lebendfallen.

Foto: Václav Mikeš

Neben zoologischen Fachkenntnissen und Forscherdrang ist eine Leidenschaft für Tiere und den Naturschutz unabdingbar. Und Ausdauer! Denn eine Rote Liste wird nicht über Nacht, sondern über viele Jahre hinweg erstellt und ist mit dem Sammeln von Beobachtungsdaten und intensiver Forschung verbunden. Dabei erlebt man viel und knüpft interessante Kontakte, sitzt aber auch längere Zeit am Schreibtisch.

An Universitäten wird organismische Biologie leider kaum noch gelehrt, junge Leute tun sich daher mit Taxonomie oft schwer. Das sollte sie aber nicht entmutigen: Wer Interesse an einer Artengruppe hat, kann sich zunächst in den entsprechenden Fachgesellschaften engagieren. Regionale Institutionen oder naturkundliche Museen bieten viel an, auch um Artenkenntnisse zu vertiefen. Daraus können sich durchaus auch Chancen für den beruflichen Weg ergeben.

Sie engagieren sich nicht nur für Säugetiere, als Erfolg Ihrer Naturschutzarbeit hat das Land NRW jetzt eine neue Verordnung zum Artenschutz herausgegeben....

Sie meinen das Verbot von Bremsenfallen! Mir war vor einiger Zeit in meiner Heimat Nordrhein-Westfalen aufgefallen, dass in der Nähe von Pferdekoppeln schwarze Kugeln mit weißer Gaze herumstehen, sogenannte „Bremsenfallen“. Sie sollen die Pferde vor den Bissen der Bremsen schützen. In diesen Fallen hatten sich viele Insekten verfangen – darunter geschützte Arten, Schmetterlinge und Wildbienen. Ich habe dann eine wissenschaftliche Studie zur angeblich selektiven Wirkung dieser Fallen angeregt. Das erschütternde Ergebnis: Von den getöteten Insekten waren weniger als 4 % Bremsen, darunter keine einzige Pferdebremse! Angesichts des großräumigen Insektensterbens sind solche Fallen nicht akzeptabel.

Das nordrhein-westfälische Umweltministerium hat jetzt darauf reagiert und im September 2020 ein Verbot der Bremsenfallen u.a. in Naturschutzgebieten und Nationalparks erlassen sowie einen zeitlich beschränkten Einsatz auf den übrigen Flächen. Für mich ist das eine schöne Bestätigung, dass sich Engagement für den Naturschutz lohnt.

Das Interview mit Holger Meinig führte Petra Richter vom Rote-Liste-Zentrum.

Holger Meinig, Jahrgang 1960, ist Zoologe und hat rund 140 Fachpublikationen, überwiegend zu Ökologie, Schutz, Verbreitung und Systematik europäischer Kleinsäuger und Fledermäuse veröffentlicht. Er ist Koordinator und Erstautor der Roten Liste der Säugetiere Deutschlands 2020, Bearbeitungsschwerpunkte Kleinsäuger und Fledermäuse und war bereits 2009 Koordinator der Roten Liste und Gesamtartenliste der Säugetiere Deutschlands. Außerdem: Mitglied der IUCN Small Mammal Specialist Group, Mitinitiator und Redakteur des Online-Atlasses Säugetiere Nordrhein-Westfalens (2015), Mitarbeit am European Mammal Assessment der IUCN (2007), Bearbeiter der Verantwortlichkeit Deutschlands für Säugertierarten (2004).

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