Man muss nicht nach Island reisen, um das Isländische Moos zu finden. Der Name ist ohnehin irreführend: Zum einen ist die Art nicht auf Island beschränkt, sie kommt vielmehr rund um die Nordhalbkugel vor, zum anderen gehört sie nicht zu den Moosen, sondern zu den Flechten. Die stehen als niedrigwüchsige und teilweise schwer zu bestimmende Organismen selten im Rampenlicht. Das Isländische Moos jedoch hat es als Heilmittel zu einer gewissen Bekanntheit gebracht – es ist unsere Art des Monats Dezember.
Bekanntlich sind Flechten Doppelorganismen aus Pilzen und Algen. Als innig verbundenes Duo verfügen sie damit über ökologische Fähigkeiten, die weder der Pilz noch die Alge als Solisten haben. So vermögen sie an Stellen zu wachsen, die aufgrund von Nährstoffarmut, zeitweiliger Trockenheit oder Extremtemperaturen für andere Lebensformen, besonders für Blütenpflanzen, zu lebensfeindlich sind. Das Isländische Moos (Cetraria islandica) gedeiht zum Beispiel auf felsigen Böden und Blockhalden aus silikatischem Gestein, aber auch auf fast sterilem Quarzsand. Selbst bei Temperaturen um den Gefrierpunkt hat es eine positive Stoffwechselbilanz.
Nach ihren geweihähnlich verzweigten Zipfeln wurde die Art auch Hirschhornflechte genannt. Die Farbe variiert je nach Belichtung von Hellbraun mit weißlichen Unterseiten über Oliv bis zu einem dunklen Lederbraun. Hin und wieder findet man Exemplare mit kleinen rotbraunen Apothecien, das sind rundliche flache Fruchtkörper, in denen die Sporen gebildet werden. Der wissenschaftliche Gattungsname Cetraria spielt auf diese Strukturen an: „cetra“ bezeichnete in der Römerzeit den aus Leder gefertigten kleinen Schild der iberischen Krieger.
Erstmals mit Island in Verbindung gebracht wurde das Isländische Moos vom Autor eines dänischen Arzneibuchs aus dem 17. Jahrhundert. Darin wird erwähnt, dass die Bewohner Islands das auf Steinen wachsende „Moos“ im Frühjahr als Abführmittel benutzten. Zu Mehl zerstoßen werde es auch Suppen beigemengt und wirke dann appetitanregend. Seither wurde dem Gewächs eine Vielzahl positiver Wirkungen zugeschrieben, nicht nur für Menschen, sondern auch als Notnahrung für Haustiere.
Bis in die Gegenwart gehört die Art zu den traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln. Die enthaltenen Bitterstoffe sollen verdauungsfördernd wirken, während die quellfähigen Polysaccharide, zum Beispiel in Form von Tee oder Lutschtabletten eingenommen, Reizhusten lindern können. Wer Isländisches Moos als Heilmittel nutzen will, geht in die Apotheke und fragt nach „Lichen islandicus“. Was man dort bekommt, ist Importware aus Norwegen und Osteuropa, wo die Art über der Baumgrenze noch häufig ist.
In Deutschland dagegen ist Cetraria islandica selten geworden. Die Lebensräume der Art sind im 20. Jahrhundert aufgrund der immer intensiver betriebenen Land- und Forstwirtschaft dramatisch geschrumpft. Ehemalige Sandmagerrasen und Heiden wurden durch Düngung in produktives Grünland umgewandelt oder sie wurden großflächig aufgeforstet. Ein anhaltender Rückgang der Flechte war die Folge. In der aktuell gültigen Roten Liste von 2011 wird sie als „stark gefährdet“ (Kategorie 2) eingestuft. In Deutschland ist sie wie alle Vertreter der Gattung Cetraria besonders geschützt. Es ist daher verboten, sie „aus der Natur zu entnehmen … oder ihre Standorte zu beschädigen oder zu zerstören“.
Rote Liste der Flechten und flechtenbewohnenden Pilze Deutschlands
Wirth, V.; Hauck, M.; Brackel, W. von; Cezanne, R.; Bruyn, U. de; Dürhammer, O.; Eichler, M.; Gnüchtel, A.; John, V.; Litterski, B.; Otte, V.; Schiefelbein, U.; Scholz, P.; Schultz, M.; Stordeur, R.; Feuerer, T. und Heinrich, D. (2011): Rote Liste und Artenverzeichnis der Flechten und flechtenbewohnenden Pilze Deutschlands. – In: Ludwig, G. & Matzke-Hajek, G. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands. Band 6: Pilze (Teil 2) – Flechten und Myxomyzeten. – Münster (Landwirtschaftsverlag). – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (6): 7-122.