Dr. Ulrich Schulte verrät im Interview, wie die Roten Listen entstehen und auf welche Arten wir in Deutschlands besonders achtgeben müssen. Der Koordinator der Roten Listen berichtet über sein Engagement im Naturschutz, zeigt dem Nachwuchs interessante Forschungsgebiete auf und rät Gartenbesitzern: Mehr Mut zur Unordnung!
Gute Frage – die wird nicht oft gestellt! In den Anfängen der zoologischen Forschung hat man zwischen Reptilien und Amphibien noch nicht auf Klassenebene unterschieden. Historisch verständlich, denn auf den ersten Blick sehen ja Schwanzlurche, also Molche und Salamander, manchen Eidechsen recht ähnlich und bewohnen teilweise ähnliche Lebensräume. Auch wenn man das heute besser weiß, werden meist beide Klassen gemeinsam erforscht. Dies zeigt sich auch daran, dass die „Herpetologie“, also die Wissenschaft der kriechenden Tiere, die Erforschung beider Klassen umfasst. Wenn man ins Gelände geht um Reptilien oder Amphibien zu erfassen, dokumentiert man dann auch meist Reptilien und Amphibien.
Im Vergleich zur Roten Liste von 2009 ist nur noch die Westliche Blindschleiche „ungefährdet“. In den vergangenen 20 Jahren haben die Bestände von über zwei Drittel dieser Arten abgenommen. Die Reptilien sind unter den Wirbeltieren die Gruppe mit den höchsten Anteilen bestandsgefährdeter Taxa und einer besonders alarmierenden Gefährdungssituation.
Von den Amphibien, das heißt den Schwanz- und Froschlurchen, ist die Hälfte der Arten bestandsgefährdet. Wie bei den Reptilien haben auch hier die Bestände von über zwei Drittel der Arten abgenommen.
Wir sind für die Erhaltung von mehreren Arten in hohem Maße verantwortlich, weil sie außer bei uns nur in relativ wenigen anderen Ländern vorkommen. Darunter sind zum Beispiel Laubfrosch, Feuersalamander und Westliche Blindschleiche. Bei der Kreuzotter gibt es besonders negative Entwicklungen. Rein rechnerisch wären die Bestände der Kreuzotter, wie auch der Westlichen Smaragdeidechse nach der Gefährdungsanalyse in die Kategorie „Vom Aussterben bedroht“ eingestuft worden. Wir gehen aber davon aus, dass es noch einige stabile Teilpopulationen gibt, so dass ein Aussterben der Art in Deutschland innerhalb der nächsten 10 Jahre unwahrscheinlich ist.
Doch ohne überregionale Schutzprojekte auch außerhalb von Schutzgebieten sehe ich schwarz. Länderübergreifende Projekte müssten ausgeweitet und miteinander verbunden werden. Auch ein stärkerer fachlich-wissenschaftlicher Austausch wäre wünschenswert.
Unsere Agrarlandschaft ist zunehmend monoton und ausgeräumt – Flurbereinigungen wirk(t)en hier sehr negativ: Um die Bewirtschaftung der Felder zu erleichtern und Erträge zu maximieren, wurden Parzellen zusammengelegt, Feuchtgebiete entwässert, Böschungen und Reliefkanten nivelliert und wertvolle Strukturelemente, wie Säume, Hecken, Feldwege, Steinriegel und Trockenmauern beseitigt. In dieser ausgeräumten Landschaft ist kein Platz mehr für Amphibien und Reptilien.
Heutzutage finden Reptilien häufig nur noch eine zweite Heimat an Böschungen von Verkehrswegen (Bahndamm, Straßenböschung), in nicht flurbereinigten Weinbergen oder kleinflächig im Randbereich von Abgrabungen. In der freien Landschaft fehlt es an einer natürlichen Dynamik, die immer wieder aufs Neue Offenlandhabitate schafft. In Waldlebensräumen, in denen noch ein wenig Dynamik existiert – zum Beispiel durch Stürme – oder durch Kalamitäten hervorgerufen wird, ist eine schnelle Aufforstung kontraproduktiv. Das häufigere Zulassen dieser letzten natürlichen Dynamik würde hingegen ein Vegetationsmosaik aus unterschiedlichen Sukzessionsstadien schaffen, auf das viele Reptilienarten angewiesen sind.
Amphibien fand man früher oft in Überschwemmungsbereichen von Flüssen – heute sind deren Ufer befestigt und ausgedehnte Auen gibt es so gut wie nicht mehr. In Teichen und Tümpeln verhindert Fischbesatz oftmals das Vorkommen von Amphibien. Düngung und Pestizide aus der intensiven Landwirtschaft verschlechtern die Wasserqualität und schädigen die Amphibien direkt oder deren Beutetiere. Wenn Tümpel zugeschüttet werden oder Teiche verlanden, wo sollen sie dann laichen? In bewirtschafteten Nadelwäldern fehlt den Amphibien ein schützender Unterwuchs und Totholz. Als akuter Gefährdungsfaktor kommt die Veränderung des Niederschlags im Zuge des Klimawandels dazu, in dessen Folge Laichgewässer immer öfter noch vor der Metamorphose austrocknen. Während ihrer Wanderung zu den Laichgewässern wird ihnen zudem das immer dichter werdende Straßennetz gefährlich – jährlich werden tausende Tiere überfahren.
Viele Arten, und das gilt für Amphibien wie Reptilien gleichermaßen, sind heutzutage flächenmäßig kaum noch verbreitet: Sie werden zunehmend voneinander isoliert und auf kleinflächige Sonderstandorte zurückgedrängt. So haben es die Populationen schwer bzw. es wird Ihnen unmöglich, den notwendigen genetischen Austausch aufrechtzuerhalten.
Mehr Mut zur Unordnung! Jeder, der einen Garten hat, sollte eine gewisse Unordnung zulassen, zum Beispiel Holzstapel, Steinhaufen oder Altgras stehen und liegen lassen. Man kann auch viel mit einem Verzicht auf Fischbesatz im Gartenteich oder kleinen Trockenmauern und Kompoststellen erreichen. Denn viele Arten wie beispielsweise Teichfrosch, Teichmolch, Blindschleiche und Mauereidechse sind Kulturfolger und fühlen sich auch direkt vor unserer Haustür wohl.
... von 44 Autorinnen und Autoren, die sich in einem Rote-Liste-Gremium zusammengefunden haben. Ausschlaggebend für die Teilnahme war ausschließlich das Expertentum, nicht die Mitgliedschaft in einem Verband oder einer Interessengemeinschaft. Ich bin froh, dass wir einen sehr großen Teil der Art-Experten und -Expertinnen Deutschlands dafür gewinnen und damit einen großen Erfahrungsschatz bündeln konnten. Dieses Gremium ist ein Novum für die Roten Listen, aber eines, das sehr gut funktioniert hat.
Am Anfang steht immer die Aktualisierung der Checklisten und natürlich die Datensammlung. Für die Rote-Liste-Arbeit wurde im Rahmen eines Forschungs- und Entwicklungsprojektes eine Datenbank entwickelt und befüllt, gefördert vom Bundesamt für Naturschutz. Hier sind Beobachtungsdaten aus den Bundesländern, von Institutionen aber auch von Einzelpersonen eingeflossen. Dadurch konnten wir die Roten Listen quantitativ und qualitativ auf eine breite Basis stellen.
Für die eigentliche Erstellung der Roten Listen hat man mir die Koordination übertragen. Um die Arbeit effizient zu strukturieren, wurde innerhalb des Rote-Liste-Gremiums ein engerer Bearbeiterkreis sowie ein erweiterter Expertenkreis gebildet. Der engere Kreis – bei den Reptilien bestand er beispielsweise aus neun Personen – war hauptverantwortlich für die Gefährdungseinschätzung einer oder mehrerer Arten. Der erweiterte Expertenkreis aus 22 Reptilienexperten und -expertinnen gab zusätzlich Einzeleinschätzungen zur regionalen oder bundesweiten Gefährdung einer Art ab.
Die besten Kennerinnen und Kenner der Arten haben dann die Texte der Roten Listen geschrieben. Und zwar für jede Art ein eigenes Kapitel – auch das ist ein Novum der Roten Listen Amphibien und Reptilien. Bei der Zusammenführung der Einzelbewertungen hat uns ein vom Rote-Liste-Zentrum speziell entwickeltes IT-Tool zur Gefährdungsanalyse unterstützt. Es hat die Zusammenarbeit in solch einem großen Autorenkreis wirklich vereinfacht.
Für die Analysen zur Erstellung der Roten Listen hatten wir dieses Mal – verglichen mit der RL von 2009 – vierfach genauere Verbreitungsdaten auf TK25-Quadrantenebene. Die Mühe hat sich gelohnt: Wir haben jetzt einen sehr guten Überblick über Verbreitung und Bestand unserer heimischen Amphibien- und Reptilienarten. Durch die Auswertung der Datenbank wurde aber auch sichtbar, dass die „Seltenheit“ von Arten unterschätzt worden war und der Bestand einiger Arten stärker zurückgegangen ist, als bisher vermutet. Ein Beispiel dafür ist die Kreuzkröte — die ist seit der letzten Roten Liste um zwei Gefährdungskategorien „abgestürzt“.
Und es ist auch aufgefallen, dass sich die Datenlage räumlich und zeitlich unterscheidet. In Teilen von Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz beispielsweise gibt es regionale Erfassungslücken.
Erschwerend ist sicherlich, dass es nicht für alle Bundesländer zentrale Datenportale gibt, in denen Beobachtungen einfach und benutzerfreundlich eingegeben werden können. Ein solches Angebot sollte von Landesseite insbesondere den vielen ehrenamtlich Tätigen gemacht werden, damit sie nicht nach Feierabend noch in verschiedenen Portalen mit unterschiedlichen Systemen ihre Daten eingeben müssen um sicher zu gehen, dass diese auch da ankommen, wo sie benötigt werden. Einzelne Portale mit Plausibilitätsprüfung für jedes Bundesland, vorzugsweise mit kompatiblen Systemen, anstatt einer Vielzahl unterschiedlicher Portale würden die Arbeit erleichtern – auch mit Blick auf die Roten Listen.
Die Community ist in der Tat groß und altersmäßig gut durchmischt. Neben der überschaubaren Artenzahl und der Attraktivität der Tiere spielt sicherlich eine Rolle, dass viele Arten im Anhang der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie gelistet sind. Das heißt, ihr Schutz und ihre Erhaltung muss bei Planungen und Baumaßnahmen berücksichtigt werden und ist Bestandteil der Arbeit in Planungsbüros und Naturschutzbehörden. Zudem sind die Arten vergleichsweise einfach zu bestimmen.
Auf den ersten Blick ist bereits viel erforscht bei den heimischen Arten. Aber selbst bei vermeintlich gut bekannten Arten tauchen immer wieder neue spannende Fragen auf. Gerade dadurch, dass bereits viel bekannt ist, kann man sehr in der Tiefe forschen. Man kann sich noch vielen speziellen Aspekten widmen. Wenn Sie mich konkret fragen: bei der Blindschleiche, beim Seefrosch und auch bei der Waldeidechse gibt es noch so einiges zu erforschen... .Ich persönlich fand und finde den Anwendungsbezug immer ganz wichtig. Deshalb habe ich mich auf die heimischen Arten konzentriert, vor allem auf ihre Ökologie, deren Kenntnis essentiell für effektive Schutzmaßnahmen ist.
Wenn ich dazu beitragen kann, dass Naturschutzmaßnahmen umgesetzt werden oder besser noch Gebiete einen besonderen Schutz erhalten, ist das eine große Freude. Werden in einem Projekt zum Beispiel stark verbuschte Flächen aufgelichtet und Gehölze zurückgedrängt, um den Lebensraum für Reptilien zu vergrößern, atmet eine ganze Population auf! Und das Ergebnis ist gut sichtbar, auch wenn sich die Erfolge von Schutz- und Fördermaßnahmen bei Reptilien langsamer als bei Amphibien zeigen. Alle drei bis fünf Jahre muss man solche Einsätze wiederholen, hier engagieren sich viele Ehrenamtler und diese gemeinsame Arbeit verbindet uns.
Die Roten Listen mit ihrer gebündelten Expertise sind im Naturschutz und der Wissenschafts-Community hoch angesehen. Ich habe die Koordination der Amphibien- und Reptilienliste deshalb sehr gerne übernommen. Dass es ein Gemeinschaftswerk mit allen führenden Artexperten und -expertinnen geworden ist, ist für mich ein großer Erfolg. Ich bin guter Dinge, dass dadurch ein guter Grundstein für zukünftige Bearbeitungen der Roten Listen beider Artengruppen gegeben ist. Ich würde mir wünschen, dass die Erkenntnisse zur Gefährdung der Arten zu konkreten Artenschutzprojekten, durchaus auch bundesweit, führen würden.
Das Interview mit Dr. Ulrich Schulte führte Petra Richter vom Rote-Liste-Zentrum.
Weitere Informationen
Dr. Ulrich Schulte
Der Zoologe ist Spezialist für Amphibien und Reptilien und hat die Erstellung der nationalen Roten Listen beider Artengruppen koordiniert. Als freiberuflicher Biologe betreibt er ein Büro für faunistische Gutachten. Er ist Autor von mehr als 100 Fachpublikationen zu heimischen Amphibien und Reptilien und deren Schutz sowie Teil-Schriftleiter der Zeitschrift für Feldherpetologie. Berufliche Erfahrungen machte er im behördlichen (Bundesamt für Naturschutz, Fachbereich Monitoring), wissenschaftlichen (Universität Trier) sowie im planerischen praktischen Naturschutz.
Website von Dr. Ulrich Schulte und Kontakt : www.schulte-gutachten.net